Ein Wasserfall der Liebe und Freude, von Shaivya, Warschau, Polen
Es war eiskalt und es schneite, im Februar 1991 in Warschau. Zwei junge Frauen standen auf der Straße, vor einem schlichten Plakat, mit einigen wenigen Worten darauf. "Sieh, es kostet nichts", bemerkte eine von ihnen. "Lass uns reingehen; wir haben eh noch eine Stunde Zeit bis die Theatervorstellung beginnt", erwiderte die andere. "Übrigens, was ist Meditation?"
In dem kleinen Vortragsraum war eine erstaunlich große Anzahl von Menschen – über zweihundert. Auf der Bühne saß ein junger Mann an einem Tisch auf dem ein kleines schwarzweißes Foto stand. Dann begann er seinen Vortrag in Deutsch, der von einer älteren Dame übersetzt wurde. Er sagte, dass er aus Berlin komme und dass das Gesicht auf dem Foto jenes seines Meisters sei. Nach ein paar Minuten hatte ich aufgehört zuzuhören. Es war so angenehm, einfach da zu sitzen; ich fühlte mich entspannt und friedvoll.
Plötzlich sagte er: "Nun werden wir eine Übung machen, und ihr werdet selbst erkennen, was Konzentration und Meditation ist. Bitte schließt eure Augen."
Ich schloss meine Augen. Alles verschwand. Ich befand mich innerhalb des Stromes eines Wasserfalls der Liebe und Freude, etwas Gewaltigem und Kraftvollem, aber gleichzeitig auch Zartem, ein beinahe greifbares und sanftes Gefühl von … von was? Ich konnte es nicht benennen. Trotzdem nährte es mich, als wäre ich Jahrhunderte lang hungrig gewesen, ohne dessen gewahr zu sein. Aber ich war mir gewiss, dass diese Kraft oder diese Liebe genau mit jenem übereinstimmte, auf das ich schon immer gewartet hatte. Weinte ich?
"Wir müssen gehen."
"Wie bitte?"
"Öffne deine Augen. Wir müssen gehen. Wir sind bereits spät dran."
Beim Hinausgehen verweilten wir eine zeitlang vor dem Tisch neben der Eingangstür. Darauf befanden sich einige Bücher und Bilder des Mannes, der auf dem Schwarzweiß-Foto abgebildet war. Seine Augen waren stark und sanft, betrübt und liebevoll.
Der Mann auf der Bühne sagte gerade: "Wenn ihr möchtet, könnt ihr morgen Fotos von euch mitbringen. Es wird noch zwei weitere Treffen geben."
Wir gingen. Aber ich konnte die Theateraufführung an diesem Abend nicht genießen.
"Weshalb wollte er, dass wir Fotos von uns mitbringen?"
"Er sagte, dass er sie mit nach New York nehmen würde."
"Weshalb nach New York?"
"Ich weiß es nicht, aber ich nehme an, dass der Mann, der auf dem Schwarzweiß-Foto abgebildet war, dort lebt."
Ohne weiter nachzufragen, als wäre alles geklärt und entschieden, ließen wir neue Fotos von uns anfertigen und gaben sie am Abend dem jungen Mann aus Berlin. Er sagte, er würde sie seinem Meister überreichen und vielleicht würde uns dieser als seine Schüler annehmen. Der Name des spirituellen Meisters lautete Sri Chinmoy. Meditation, Meister, Schüler – dies alles war so vollkommen neu für uns, und doch so aufregend, und ich war schon immer jemand gewesen, der gerne etwas riskierte.
Der Kursleiter fuhr wieder heimwärts, und ein paar Monate gingen ins Land. Die Veranstaltung war vorüber, und ich dachte nicht mehr daran. Ende April erschien er wieder in Warschau und sagte zu mir: "Sri Chinmoy hat dich als seine Schülerin angenommen."
Ich fühlte, wie plötzlich eine Kompassnadel kräftig inmitten meines Brustkorbes zu wirbeln begann, sowie ein unglaubliches Gefühl von Freude und Triumph. Ich fing an zu lachen. Der Pfeil hatte mitten ins Schwarze getroffen.
Shaivya Rubczynska, Warschau, Polen