Ich bin unsagbar erleichtert, glücklich, von Pratul Halper
Ich bin gerade erst 16. Spaziere mit meiner Mutter und einer Großtante in der Innsbrucker Altstadt. Da springt mir ein Poster ins Auge, das ziemlich schief einsam auf einer Hauswand hängt und mit "Meister der Meditation" betitelt ist. Hmm, nicht uninteressant, denke ich und trete näher. Je ein Portrait von drei Männern ist darauf abgebildet – wohl eben solche Meditationsmeister, deren Namen ich aber noch nie zuvor gehört habe, und darunter ein Aphorismus. Ich betrachte die Bilder und bin zugleich perplex und tief berührt. Wie viel Liebe, wie viel Frieden und Licht diese Gesichter ausstrahlen!
Ich kann meinen Blick nicht mehr davon abwenden. Irgendwie sind sie mir tief vertraut. Ein Hauch von etwas Jenseitigem streift mich für einen Augenblick und löst in mir ein beglückendes, heimeliges Gefühl aus.
Ich lese die Aphorismen und verweile kurze Zeit in diesem etwas entrückten Zustand, bis sich mein Kopf wieder zu Wort meldet. "Zu gut für diese Welt", meint er, während ich mir zum Vergleich oder um wieder auf den Boden der Realität zu kommen, die Gesichter der eilig vorbei strömenden "normalen" Menschen anschaue, die mir in diesem Moment wie leblos scheinen.
"Aber ich hab’s ja auch eilig!" schießt es mir da durch den Kopf. "Und wo ist überhaupt meine Mutter?" Schnell schaue ich mir noch das Datum an. Zeit für den Vortrag hätte ich, aber eine Stimme in mir sagt nein. Zu früh. Der Zeitpunkt ist noch nicht gekommen. Andere Erfahrungen sind vorher noch zu sammeln.
Zwei Jahre später geht dann alles wie von allein. Ich mache gar nichts, bin nur Beobachter. Ein Vortrag eines schweizer Diplom-Psychologen über Musik und Meditation. Genau mein Thema. Was er spricht, vergesse ich postwendend wieder, und während der Meditationsübung fühle ich mich, was die Ruhe und Stille meines Verstandes betrifft, zu meiner Verärgerung wie Samstagabend in einer Disco. Was mich aber beeindruckt, ist die ruhige, fröhliche Ausstrahlung des Vortragenden, der, wie er mir nachher erzählt, schon viele Jahre unter der Anleitung seines Meisters Sri Chinmoy meditiert. Allerdings passt er überhaupt nicht in mein Schema des Höhlenyogis: Er hat einen Bioladen, propagiert gesunde Ernährung, läuft Marathon und ist auch sonst aktiv und vielseitig engagiert. Beiläufig erwähnt er auch, dass sein Meister Sri Chinmoy schon bald zu einem großen Konzert nach Köln kommen würde, und wenn ich will, könne ich mich ein paar Suchern anschließen, die ebenfalls hinfahren würden. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits drei Monate vorher selbstständig zu meditieren begonnen, allerdings mit mäßigem Erfolg, und war daher nicht abgeneigt, es einmal unter kundiger Anleitung zu versuchen. In erster Linie aber ist es reine Neugierde, die mich dazu bewegt, mitzukommen.
Was beim Konzert geschieht, ist – im wahrsten Sinne des Wortes – wie ein Traum; denn sobald der Meister die ersten Töne auf einem undefinierbaren indischen Streichinstrument spielt, falle ich in komaähnlichen Tiefschlaf, aus dem ich erst kurz vor Ende des Konzerts ruckartig erwache. „O nein! Alles verpasst!“ ärgere ich mich, und mein Bewusstsein rutscht endgültig in den Keller. Dann allerdings geschieht etwas Unerwartetes: Sri Chinmoy lädt alle Sucher, die aus Österreich gekommen sind, ein, mit ihm kurz persönlich zu meditieren. Sollte meine Stunde vielleicht doch noch kommen? Ja, das könnte den Abend vielleicht noch retten!
Ich stelle mich mit einem kleinen Grüppchen spiritueller Sucher im Halbkreis auf und durchlebe ein Wechselbad der Gefühle. Mein Kopf arbeitet auf Hochtouren und ist zugleich verwirrt und neugierig. Im Herzen jedoch mischt sich Aufregung mit einem Gefühl ekstatischer Freude. Was wird jetzt wohl geschehen?
Schließlich öffnet sich die Türe und Sri Chinmoy schreitet im indischen Dhoti langsam und bedächtig auf uns zu. Ein Hauch eines Lächelns liegt auf seinen Lippen. Seine sich rasch bewegenden Augen erwecken in mir den Eindruck, als weile er nicht ganz, oder zumindest nicht nur, in dieser Welt. Seine Gestalt ist eher klein, seine Ausstrahlung aber umso erhabener und majestätischer.
Vom einen Ende des Halbkreises aus beginnt Sri Chinmoy nacheinander auf alle Sucher zu meditieren. Seine Augen bewegen sich rasch, und kurze Zeit später ist er bei mir angelangt. Was nun in den nächsten Sekunden geschieht, ist eine der eindrücklichsten, nachhaltigsten und erfüllendsten Erfahrungen meines Lebens. Sri Chinmoys Blick fällt auf mich, aber gleichzeitig scheint er durch mich hindurch zu gehen. Plötzlich werde ich vieler Dinge in mir gewahr, die mir bisher verborgen geblieben waren – zum Teil strahlend und lichtvoll, zum Teil aber auch erschreckend dunkel, so dunkel, dass ich mich am liebsten in ein Mauseloch verkriechen würde. Gleichzeitig aber fühle ich mich nicht mehr alleine damit, fühle eine tiefe Verbundenheit, fühle mich vom Meister angenommen, verstanden, an der Hand genommen, so als hätte er die Last mit mir geteilt. Die Zeit steht still, mein Kopf ist völlig überfordert, aber ich bin unsagbar erleichtert, glücklich und dankbar. Es ist ein Gefühl, wie wenn man nach einer langen, Kräfte zehrenden Reise endlich wieder nach Hause kommt.
Der Rest ist reine Formsache. Ich beschließe, die Sache mal vorläufig ein halbes Jahr lang auszuprobieren, und bewerbe mich per Foto als Schüler Sri Chinmoys, der mich bald darauf auch äußerlich als solchen annimmt. Auf der Heimfahrt entgehen wir mit unserem nicht mehr wirklich verkehrstüchtigen VW-Bus nur knapp, wie durch ein Wunder, einem schweren Verkehrsunfall. Ich schließe im kritischen Moment die Augen und sehe vor meinem geistigen Auge klar Sri Chinmoys transzendentales Bild. Seit dieser Erfahrung habe ich mich in kritischen oder gefährlichen Lebenssituationen immer behütet und beschützt gefühlt, bin aber auf Sri Chinmoys Rat oder Warnungen hin bei abenteuerlichen Aktionen generell viel vorsichtiger geworden.
Was dieses Schüler-Sein nun wirklich praktisch bedeutet, davon hatte ich zu diesem Zeitpunkt so gut wie keine Ahnung. Mein Tagesablauf änderte sich de facto kaum, sehr wohl aber die Qualität meiner täglichen Meditationen; denn ich bekam ein Meditationsbild (das so genannte "Transzendentale Bild"), und von da an wusste ich von innen her, wie ich zu meditieren hatte. Es war wie ein Quantensprung. Das Meditieren bereitete mir, unabhängig von äußeren Vorkommnissen, nun viel mehr Freude und gab mir gleichzeitig auch im äußeren Leben großen Halt. Dieses Gefühl der inneren Führung, sowohl in meinen Meditationen als auch im täglichen Leben, hat mich seit meiner Annahme durch meinen Meister Sri Chinmoy nie verlassen, und es ist eines der kostbarsten Dinge in meinem Leben; denn es ist in Wahrheit die Verbindung mit einer inneren Quelle, der Quelle allen Seins, dem Selbst, dem Göttlichen, ein "schwanger werden mit Gott", wie ich es in einem Sufi-Buch wunderschön ausgedrückt fand. Mit dieser Gegenwart, diesem Gefühl im Herzen habe ich mich, im Gegensatz zu früher, im äußeren und inneren Leben immer sicher und nie allein oder einsam gefühlt. Ich glaube, es ist das schönste Geschenk, das ein Mensch im Leben erhalten kann, das einzige, das dauerhaft erfüllt, der einzige sichere Halt in dieser unbeständigen Welt, und tief in mir weiß ich, von wem ich es erhalten habe.
In ewiger Dankbarkeit
Pratul Halper
Wien, 5. August 2009