Für mich war Sri Chinmoy von Anfang an wie ein Zen-Meister, Vasanti aus Heidelberg
Ich hatte das Glück, 26 Jahre lang Sri Chinmoy als lebenden Meister erleben und mich seine Schülerin nennen zu dürfen. Ungefähr 1980, während meines Übersetzer-Studiums suchte ich verzweifelt nach Lebenssinn und versuchte über eine nihilistische Haltung aufrichtig hinausgehen zu können. Da kam ich das erste Mal mit Meditation und verwandten Themen in Berührung. Auf einer 3-monatigen Mittel- und Südamerikareise mit meinem damaligen Freund kamen wir mit den Büchern von Carlos Castaneda und der Philosophie von Rudolph Steiner in Berührung. Dann war da das Buch "Die Kunst des Liebens" von Erich Fromm, das wir in der Übersetzungskritik behandelten - und das mir klar machte, dass man, um Liebe zu erfahren, erst einmal selbst fähig sein müsse zu lieben - und dazu sei Meditation notwendig. Das Buch "Die große Befreiung" von Daisetz Suzuki war dann wie eine große Befreiung für mich - es gibt etwas jenseits der ganzen Dualität und Relativität – aber man kann es nicht sagen, man kann es nur erfahren, bzw. SEIN. Satori, der Spiegel ohne Stand - das wollte ich erleben. Ich war fest entschlossen, für drei Jahre in ein Zen-Kloster in Japan zu gehen. Und ich wusste jetzt: Wenn ich es ernst meine, brauche ich einen Meister. Gerne einen, der mir mit dem Stock auf die Schulter schlägt, wenn das hilft. Das Ego ist so tückisch, es alleine zu überwinden ist fast, wie sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Doch erst nach dem Studium. Inzwischen verschlangen wir weitere Bücher: Die drei Pfeiler des Zen von Kapleau, Graf Dürckheim, Herriegel, sämtliche Zen-Koans und, und, und.
Anfang 1981 sahen wir dann zum ersten Mal ein Poster in Heidelberg (die schon x-mal da gehangen waren, aber man stößt ja immer erst auf bestimmte Dinge, wenn man dazu bereit ist), blaue Schrift auf weißem Grund, mit 2 Buddha-Grafiken, ein Vortrag über "Meditation - die innere Entdeckungsreise", von einem Schweizer Psychologen. Die Buddhas zogen mich magisch an, Psychologe klang nicht nach Sekte (was für mich nicht mehr bedeutete als "Gemeinschaft mit irgendwelchen festen Glaubensvorstellungen" - ich wollte ja nichts glauben, ich wollte erfahren), auch die Unterthemen "Gefahren im Alltag", etc. klangen sehr vernünftig und realitätsnah.
Also hin zu dem Vortrag. Was der Psychologe - ein Schüler Sri Chinmoys, wie ich später erfuhr - erzählte war auf eine Art etwas langweilig, weil nicht viel Neues – dass erst ein Auto, dann zwei Autos, etc. nicht glücklich machen, war mir seit Erich Fromm klar, wenn nicht schon mit 8 Jahren, als ich meiner Oma erklärte, dass sie niemals so lange leben würde, bis ich heirate, weil ich nie heiraten werde. Karriere, Familie, Geld, etc. war nie mein Ziel - das mit dem Geld hätte ich mir vielleicht doch besser überlegen sollen. Als Kind war mein klares Lebensziel: alt und weise werden. (Und der spirituelle Name, den Sri Chinmoy mir 1984 gab, bedeutet interessanterweise "Weisheits-Licht". Wobei ein spiritueller Name in der Regel eine Seelenqualität beschreibt, die in diesem Leben besonders stark zum Vorschein kommen will - ein Prozess, ein Entwicklungsziel also.)
Was mich bei dem Vortrag dann aber doch faszinierte - und was schließlich mein Leben von Grund auf veränderte, war: erstens die Authentizität, mit der der Schweizer sprach, zweitens die für mich völlig neue Darstellung des menschlichen Wesens, wie sie auch Sri Aurobindo lehrt - von außen nach innen und von formhaft zu formlos, in konzentrischen Kreisen dargestellt, wobei der kleinste, innerste Kreis im Grunde das alles Umfassende ist: Körper, Lebensenergie (Vitales, Bauch-Emotionen), Verstand, spirituelles Herz, Seele. Dass wir im Grunde dieses Innerste sind, die spirituelle Seele, der Rest alles Hüllen oder Teilrealitäten, und in diesem Inneren alle eins - irgendwie hatte ich es geahnt, hatte aber nie den Zugang zu diesem Innersten gefunden, was sehr schmerzhaft sein kann.
Mit einer ganz einfachen Übung - einen Lichtpunkt oder eine Sonne im Herzen sehen bzw. visualisieren, dort wo wir hindeuten, wenn wir "Ich" sagen, und diese Sonne sich ausdehnen lassen für einige Minuten, ins Unendliche, und dann wieder zusammenziehen lassen - diese Übung war "wow", das ist Meditation. Bei meinem Freund passierte gar nichts.
Von da an machte ich diese Übung täglich, erst abends, während mein Freund vor dem Fernseher lag. Ich ging zu den Meditationskursen, erst in der Annahme, der Meister des Psychologen werde dort physisch vorgestellt (als wenn er sich im Hotel versteckt hätte). Und dort kam ich als erstes mit einem Bild Sri Chinmoys, aufgenommen in tiefer Meditation in Berührung, das für mich die Klarheit und "Leerheit" ausstrahlte, wie ich sie in den Büchern über Zen gespürt hatte. Der Kursleiter war dann sogar ein anderer Schüler Sri Chinmoys, der selbst lange Zen geübt hatte, aber sich jetzt auf dem Meditationsweg Sri Chinmoys wohler fühlte. Als er nach einer längeren stillen Meditation dann anfing zu singen, berührte das noch etwas viel Tieferes in mir als die stille Meditation. Ich fühlte mich angekommen. Niemand brauchte mich zu überzeugen, Schüler zu werden – es war ein ganz natürlicher Schritt. Und ich hatte auch das Glück, angenommen zu werden – im Gegensatz zu einem anderen "Mitbewerber", der aber gar nicht mehr erschien, um die Absage zu erfahren (ein Meister weiß, wer zu ihm gehört, sagt man).
Als ich hörte, dass Sri Chinmoy auch Sport als Ergänzung zur Meditation empfahl, besonders das Laufen - das ich erst vor kurzem erfolglos versucht hatte anzufangen, um mit dem Rauchen aufzuhören - hatte der Weg einen weiteren Stein bei mir im Brett, sozusagen. Auch die Tatsache, dass das Ziel war, im Zölibat zu leben, war für mich völlig einleuchtend. Für mich waren eigentlich alle Menschen schon immer Geschwister, und diese Geschichte mit zwei (oder mehr) Partnern hat de facto bei mir nicht funktioniert. So gern ich meinen Freund hatte - da konnte er nicht mitgehen, und so blieb nur die Trennung. Kurze Zeit später war er verheiratet, obwohl zuvor Heirat für ihn als Aufgabe der Freiheit unvorstellbar gewesen war. Einerseits hätte ich mich gefreut, mit meinem Freund gemeinsam den Weg der Meditation zu gehen - es gibt ja viele Paare auf Sri Chinmoys Weg –, aber es sollte wohl nicht sein. In vielen Punkten waren wir sowieso zu unterschiedlich. Das Leben ist wie ein Marathon - man kann manchmal lange Strecken oder auch den ganzen Marathon gemeinsam laufen, aber man muss auch wissen, wann man alleine sein eigenes Tempo laufen muss, wenn man das Beste geben will.
Ich war sicher, dass die Erfahrung, durch die innere Erfüllung aus der Meditation mit Menschen auf einer anderen Ebene verkehren zu können, eigentlich eine Erlösung für viele sein müsste - aber die meisten wagen nicht einmal den Versuch.
Als ich Sri Chinmoy dann das erste Mal persönlich in New York sah - im Sommer 1981, als er gerade 50 wurde - so fit, jugendlich, sportlich - spürte ich erstmal gar nichts. Erst später, bei der Meditation und bei anderen Gelegenheiten - öffnete sich etwas Inneres und ich konnte in eine andere Dimension eintauchen. Rückblickend konnte ich erkennen, dass ab dem Tag im April, an dem er mich als Schülerin angenommen hatte (d.h. auf das Bild, das ich ihm geschickt hatte, meditiert hatte), meine Meditation eine ganz andere Qualität erhalten hatte. Aber hier in New York, in der unmittelbaren physischen Nähe, das waren nochmal ganz andere Ausmaße.
Für mich war Sri Chinmoy von Anfang an wie ein Zen-Meister, der nicht primär durch seine Worte lehrt, sondern indem er innerlich mit einem arbeitete. Vieles davon wurde einem erst später bewusst. Ich war dankbar auch für die Regeln, die er vorgab, zu unserem eigenen spirituellen Wohl (vegetarische Ernährung, keine Drogen, auch kein Nikotin, Kaffee war die eigene Entscheidung jedes einzelnen), habe aber x-fach erlebt, wie er voller Mitgefühl, Liebe und Nachsicht war, wenn jemand Schwäche zeigte, aber zugleich den Willen zur Veränderung hatte.
Sri Chinmoy war im Grunde eine lebende Inspiration. Mit allem was er tat und sagte, versuchte er, andere Menschen, nicht nur seine Schüler, zu inspirieren, zu motivieren, zu ermutigen, weiterzugehen, über eigene Schwächen hinauszuwachsen, die innere Dimension zu erschließen. Und er war unabhängig - vom Geld anderer, von der Meinung anderer. Auch wenn Verunglimpfungen ihn schmerzten - weil sie das Positive behinderten, das weiterzugeben er als seine Lebensaufgabe sah.
Ich erinnere mich noch, wie Sri Chinmoy bei einem großen Konzert in der Frankfurter Festhalle auf der Bühne begann, ein weißes Saxophon auszuprobieren. Schräg hinter mir saß der Kritiker von der FAZ. Ich war so stolz auf mich selbst, dass es mir nichts ausmachte (ich war für die Presse mit zuständig.) Sri Chinmoy war immer wie ein Kind - unschuldig, spontan, völlig konzentriert im Hier und Jetzt, immer in der Entwicklung, sich nie schämend, etwas nicht perfekt zu beherrschen, sondern glücklich dabei, Fortschritt zu machen, immer auch seiner inneren Intuition oder Stimme folgend, nie darum bemüht, irgendjemand "zufriedenzustellen", vor allem nicht irgendjemandes Ego. Geben ja, bedingungslos und grenzenlos, aber nie dem Ego oder der Unwissenheit anderer dienen. Und das ist etwas, womit wir Menschen oft Schwierigkeiten haben.
In meiner Familie machte ich am Anfang die Erfahrung, dass Neues und Unbekanntes, das nicht den eigenen Vorstellungen entspricht, oft missverstanden wird. Meine damals sehr eng christliche Schwester war zumindest so nett, für mich zu beten, da ich ja auf dem Weg zur Hölle war, wie sie mir mehrfach schrieb. (Meine Eltern meinten nur, wir seien beide etwas verrückt.) Inzwischen jedoch hat sich das familiäre Verhältnis absolut entspannt und ist besser denn je. Respekt und Toleranz sind zum Vorschein gekommen, aber auch eine tiefere Verbundenheit. Mit meinen Nichten verstehe ich mich hervorragend, auch wenn der Schwiegervater meiner Schwester es schade findet, dass ich nicht wenigstens in einer christlichen "Sekte" sei. Wobei dieser Begriff eigentlich immer daneben liegt, denn er bedeutet Abspaltung. Eine Ordensgemeinschaft ist ja auch keine Sekte - wenn schon einen Vergleich, dann bitte "Ordensgemeinschaft" - Kloster ohne Mauern, das kommt nahe. Modernes Mönchstum - das erinnert mich an eine Antwort des Dalai Lama bei einer Rede in Chicago beim Parlament der Weltreligionen 1993, als er gefragt wurde, was man denn gegen die Überbevölkerung auf der Welt machen könne. Er antworte ganz schlicht, mit seinem berühmten Lächeln, als wäre das doch die einleuchtendste Lösung der Welt: "More people have to become nuns and monks!" ("Mehr Menschen müssen Nonnen und Mönche werden!")
Fortsetzung folgt.
Vasanti, Heidelberg